2. Abhängige oder dependente Neurosendisposition

Psychischer Befund:

Der Patient ist in regressiver, dem Alter nicht angemessener Weise anklammernd, zeigt wenig eigene Willensäußerungen und Eigeninitiative. Überausprägung primärer Fähigkeiten: naives Vertrauen und Zutrauen, Glaube, Hoffnung, Geduld, Gehorsam. Der Patient ist überaus nachgiebig und versöhnlich und hofft auf nicht endende Unterstützung und Fürsorge, wenig Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Angst, alleine zu sein und verlassen zu werden, inaktive Erwartungshaltung.

Biografische Anamnese:

Das Kind erfährt während der oralen Phase genügend Zuwendung und Aufmerksamkeit, so dass sich ein primäres (naives) Urvertrauen bilden kann. Die Mutter hört mit der Fürsorge nicht auf, obwohl es entwicklungsmäßig angemessen wäre. Autonomie entwickelt sich nicht, wenn das Kind in der Separations-Individuations-Phase (6. bis 36. Monat) bei einer selbstsicheren und liebenden Mutter nicht erfährt, dass es sich selbstständig bewegen (auch auf Dritte hin) und entfalten kann, ohne deshalb den Schutz und die Zuneigung der Mutter zu verlieren. Die Mutter benötigt das Kind als von ihr abhängiges Selbst-Objekt, kontrolliert es, behindert seinen Erwerb von Kompetenzen und reagiert ängstlich, wenn sich das Kind von ihr entfernt. Die abhängige Struktur, v. a. in Kombination mit Borderline-Anteilen, disponiert zu Missbrauch.

Psychodynamik

Innerpsychische Repräsentation guter Objekte, jedoch Fixierung an die Mutter mit bleibenden symbiotisch-fusionären Wünschen. Unzureichende emotionale Besetzung von Dritten (mangelnde Triangulierung). Abwehr von negativen Gefühlen. Unterwerfung, Verzicht auf Trotzreaktionen und Autonomie. Kritische und abgrenzende Ich-Funktionen entwickeln sich unzureichend. Ggf. Inkorporation von Nahrung und Suchtmitteln als primitive Form der Abwehr bei realer oder phantasierter Trennung vom dringend benötigten Objekt.
Persistierendes regressiv-unbewusstes Bedürfnis nach grenzenloser Geborgenheit bei einem immer verfügbaren und allmächtigen (koabhängigen) Objekt.

Schnellorientierung zur abhängigen Neurosenstruktur

Wesensmerkmale: sehr anklammernd, sehr brav, wagt keine eigenen Schritte, will ständig Rat und Führung

Impliziter/unbewusster Auftrag: Sehnsucht nach einem kleinkindhaften Primärzustand vollkommener externer Bedürfnisbefriedigung: Ich bin klein und schwach, du bist die/der Große und Starke, ohne dich bin ich nichts; sage mir, was ich tun soll; übernimm du alle Verantwortung; erspare mir Anstrengung und Unbehagen
Abgewehrt: Autonomiestrebungen und Selbstbehauptung, Wut über die Behinderung von Autonomie, expansive, aggressive und sexuelle Impulse

Abwehrmechanismen: Verleugnung von eigenständigen Bedürfnissen und von negativen Gefühlen, Regression , Fixierung an symbiotisch-fusionäre Wünsche, Inkorporation von Suchtmitteln

Gegenübertragung: zuerst angenehme und unproblematische Therapiebeziehung, dann zunehmend lästig und anstrengend, Mühe, die Therapiesitzungen und die Therapie überhaupt zu beenden

Unbewusster Grundkonflikt: Ich bewundere starke und eigenständige Menschen, aber ich selbst bin klein und schwach und immer auf den Schutz, den Halt und die Führung anderer angewiesen; wenn ich tue, was ich will, werde ich die Menschen, auf die ich angewiesen bin, verlieren oder zerstören

Besonders vulnerabel für: (drohenden) Verlust von Menschen, die Halt und Führung gewähren, Autonomieentwicklung von Menschen (zum Beispiel die Kinder), die bislang von einem abhängig waren, Entwicklungsaufgaben, die mehr Autonomie verlangen.