4. Zwanghafte (anankastische) Neurosendisposition

Psychischer Befund

Übertrieben starke und eigensinnige Ausprägung von sekundären psychosozialen Normen und Fähigkeiten: Ordnung/Pedanterie, Genauigkeit/Perfektionismus, Sparsamkeit/ Geiz, Reinlichkeit, Disziplin, Höflichkeit, Fleiß. Blinder Gehorsam gegenüber Autoritäten und Prinzipien. Fürchtet, etwas falsch zu machen oder wegen einer Unzulänglichkeit angeschuldigt zu werden, ist deshalb übervorsichtig. Schwanken zwischen Unterwerfung und Rebellion gegen Autoritäten. Tendenz, andere rücksichtslos zu kontrollieren und zu beschuldigen. Unterdrückung eigener Gefühle und Bedürfnisse. Plant alles minuziös, liebt Rituale. Störungen der Ordnung oder Behinderungen der Rituale verursachen Angst. Persistenz magischen Denkens, Leistung geht vor Vergnügen.

Biograph. Anamnese

Dührssen sah die Präformierung zur zwanghaften Struktur im 2. und 3. Lebensjahr, in der Phase der handelnden Weltbewältigung, in der das Kind neue motorische Möglichkeiten der Expansion, Aggression, des Festhaltens (retentive Antriebe), der Selbstbehauptung und Durchsetzung des eigenen Willens (Trotz) gewinnt. In dieser Zeit würden dem Kind zu viele Verbote, Gebote und moralisierende Ermahnungen zugemutet. Die Umwelt gewinne so einen übermäßigen, dem Entwicklungsalter unangemessenen Aufforderungscharakter hinsichtlich der Beherrschung von Blase und Darm, überhaupt der Selbstbeherrschung, Ordnung, Sauberkeit, Perfektion und des Verzichts auf Handlungsimpulse. Der eigenständige Gedankenstrom des Kindes werde zu stark durch persönlichkeitsfremd erlebte Inhalte durchkreuzt und untergrabe die Vorherrschaft der eigenen Gedankenwelt und eigenen Handlungsimpulse gegenüber diesen Inhalten. Mitunter kann ein strenger, legalistischer Erziehungsstil in eine willkürliche und rigorose Dressur des Kindes, das sich dem Willen eines oder beider Elternteile völlig unterwerfen muss, ausarten. Nach Schultz-Hencke werden unter diesen Bedingungen das natürliche "Aggredi" im Sinne der motorischen Entfaltung, auch das Bedürfnis, Besitz zu ergreifen oder sich die Umwelt aktiv zu erschließen, gehemmt. "Eine lebhafte Bereitschaft zum Handeln, und zwar am rechten Ort, zur rechten Zeit, in rechter Weise", kommt nicht zustande.
Infolge noch fehlender kognitiver Fähigkeit zur Kausalverknüpfung herrscht im 2. und 3. Lebensjahr ein magisches Welterleben vor, an das zwanghaft strukturierte Menschen weiter fixiert bleiben können: Personen und Gegenstände sind mit mächtigen, nicht vorhersehbaren Fähigkeiten ausge-stattet. Die Welt wird allbeseelt erlebt, als hätte jeder Gegenstand ein eigenes Wünschen, Planen und Handeln und könnte durch magische Handlungen beeinflusst werden.

Psychodynamik

Der Zwang von außen, der die natürliche Spontaneität, den Vollzug des eigenen Willens und die Autonomieentwicklung behindert, wird zum inneren (introjizierten) Zwang. Das durch den Zwang beschädigte Selbst stabilisiert sich durch magische Rituale und sadistische Fremdkontrolle, durch die der Zwang und die angestaute ohnmächtige Wut in versteckter und sozial akzeptierter Form abgeführt werden können. Ständiger Kampf um Selbstkontrolle. Aggressive Affekte und Triebregungen in Versuchungs- und Versagungssituationen müssen durch Affektisolierung, Reaktionsbildung, Intellektualisierung und Rationalisierung abgewehrt werden. Triebdurchbrüche müssen ungeschehen gemacht werden. Wenn das nicht gelingt, wird der Betroffene durch Über-Ich-Angst überwältigt. Die Entwicklung des Über-Ichs ist auf einer archaischen, strafenden Stufe stehen geblieben. Die magischen Rituale dienen auch der Beruhigung des Über-Ichs.
Persistierendes regressiv-unbewusstes Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstbehauptung gegenüber einer als übermächtig erlebten Umwelt.

Schnellorientierung zur zwanghaften Neurosenstruktur

Wesensmerkmale: im Denken und Handeln übergenau und perfektionistisch; verlangt auch von anderen die Einhaltung von Sozialisationsnormen

Impliziter/unbewusster Auftrag: Ich will, dass für mich alles kontrollierbar ist; hilf mir, mein Gewissen zu beruhigen

Abgewehrt: offene Willensäußerung und Selbstbehauptung gegenüber einem als übermächtig erlebten Umfeld

Abwehrmechanismen: Affektisolierung, Reaktionsbildung, Rationalisierung und Ungeschehenmachen in Form von magischen Ritualen, um ein archaisch-strenges und strafendes Über-Ich zu beschwichtigen

Gegenübertragung: anstrengend, gehemmter Ärger, Unlust; u. U. findet man sich in einem Machtspiel um Regeln und Formen wieder

Unbewusster Grundkonflikt: Ich bin so ohnmächtig; niemand darf merken, wie wütend ich bin; ich muss totale Kontrolle über mich und meine Umgebung haben, sonst passiert eine Katastrophe

Besonders vulnerabel für: alle beruflichen und familiären Unwägbarkeiten und Lebensveränderungen, Verlust von Macht und Kontrolle oder " im Sinne einer Versuchungssituation " unerwarteten Zuwachs von Macht.