5. Histrionische oder hysterische Neurosendisposition

Psychischer Befund

Oft attraktiver Patient. Schönheit wird benutzt, um sich Anstrengung zu ersparen. Theatralische Pose, aufdringliches Dramatisieren von oberflächlichen, labilen Affekten, Selbstdarstellung, ständig beschäftigt mit der äußeren Erscheinung und mit der eigenen Wirkung, Diskrepanz zwischen gespielter Rolle und wirklichem Sein. Hinter der koketten Fassade innere Leere und tiefe Vertrauenslosigkeit in die Welt. Angst, nicht beachtet zu werden, will im Mittelpunkt stehen, daher übertrieben verführerisch, will eine starke, liebende und umsorgende Person mit der eigenen Attraktivität an sich binden und kontrollieren, leicht beeinflussbar und erlebnishungrig.
Nach Schultz-Hencke fehlen der infantilen Expansivität die notwendige Struktur und Rationalität. Die Irrationalität drückt sich in der Sprache aus, mit welcher der hysterisch Strukturierte "Schindluder" betreibt. "Eulenspiegelei und Clownerie beherrschen Erleben, Ausdruck und Handeln." Hysterisch Strukturierte spielen planlos die Rolle anderer. Sie leben "im fremden Gewand". Die Patienten wollen anders erscheinen als sie sind. Sie inszenieren sich, weil sie sich, so wie sie sind, als unzureichend erleben. Sie identifizieren sich mit anderen, die sie als stärker, attraktiver, erfolgreicher usw. ansehen. Benjamin spricht von einem kränklichen Untertyp, der gelernt hat, durch Klagen und Unfähigkeit wirkungsvoll warmherzige Fürsorge hervorzulocken.

Biograph. Anamnese

Freud vermutete die Entstehung der hysterischen Disposition in der ödipalen Phase (4. -5. Lebensjahr). Heute sind sich die meisten Autoren einig, dass auch präödipale Einflüsse eine wesentliche Rolle spielen. Die Inszenierung im fremden Gewand lässt sich biographisch erklären aus der Erfahrung des Kindes, von den Eltern nicht um seiner selbst willen, sondern dafür geliebt zu werden, dass es den elterlichen Ambitionen, z. B. besonders hübsch auszusehen oder ungewöhnlich unterhaltsam zu sein, entspricht (Winnicotts Begriff des "falsches Selbst"). Insgesamt erfährt das Kind von den Eltern eher eine oberflächliche und wechselhafte Gefühlsbindung. Der klassisch-psychoanalytische Prototyp einer Hysterikerin ist die attraktive Frau, die als Kind von ihrem ebenfalls als attraktiv erlebten Vater bewundert und bevorzugt wurde. Auch sie bewunderte und bevorzugte ihren Vater. Die Beziehung war durch Flirten geprägt, jedoch nicht inzestuös wie bei Borderline-Persönlichkeiten. Die histrionisch strukturierten Patienten lernten als Kind, dass es wichtiger ist, attraktiv zu sein als kompetent, um Einfluss auf wichtige andere zu haben. Benjamin weist darauf hin, dass manche Patientinnen als Kind ihre Attraktivität einsetzen mussten, um andere Familienmitglieder vor gewaltsamen Übergriffen eines z. B. alkoholkranken Vaters zu schützen. Dührssen sieht wie Freud die histrionische Strukturbildung im 4. bis 5. Lebensjahr. Sie weigert sich jedoch, "diese sehr komplexen Vorgänge überbetont mit dem Sexualleben des späteren Erwachsenen in Verbindung zu bringen". Bei der Suche nach der erfolgreichsten Rolle gelange das Kind zu keinen klaren Gefühl vom eigenen Ich (einschließlich der eigenen Geschlechtsrolle) und vom Wesen der umgebenden Menschen und ihrer Beziehungen untereinander. Das Kind wechsle u. U. dauernd die Fassade, z. B. als Jungen gewünschte Mädchen versuchen, mit jungenhaftem Benehmen die Anerkennung der Eltern zu gewinnen. Begünstigend für die histrionische Strukturentwicklung wirken sich unklare familiäre Generationsgrenzen, emotionale Bündnisse zwischen einem Elternteil und dem Kind gegen den anderen Elternteil und Loyalitätskonflikte aus.

Psychodynamik

Nach Schultz-Hencke ist das "liebende-sexuelle" Antriebserleben im Sinne einer bejahenden Zuwendung und zärtlichen Kontaktsuche gehemmt, und gleichzeitig drängt es nach Erfüllung. In diesem Spannungsfeld von Versuchung und Versagung kann sich kein ausreichend rationales Weltbild entwickeln, wie es sich im vierten und fünften Lebensjahr normalerweise auf dem Wege der Realitätsprüfung herausbildet. Die resolute Erforschung der Welt, wie sie wirklich ist, einschließlich der Ergründung der Geheimnisse der Sexualität und der Herkunft der Kinder, ist beeinträchtigt. Durch die emotionale Verstrickung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil sind die kognitive, realitätsprüfende Ich-Entwicklung sowie die Reifung des Über-Ichs und Ich-Ideals, die über die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil fortschreiten sollten, eingeschränkt. Die urtümliche Produktivität frühkindlicher Phantasie und Intuitivität findet mangels ordnender und planender Ratio sowie mangels klarer Wertorientierung keinen Boden. Die Patienten emotionalisieren alltägliche Ereignisse, um einer quälenden inneren Leere (des falschen Selbst) zu entgehen. Dissoziative Symptome symbolisieren Hilflosigkeit infolge einer unvollständigen Symbioseablösung.
Persistierendes regressiv-unbewusstes Bedürfnis nach Versorgung durch ein ideales, starkes und durch Verführbarkeit kontrollierbares Objekt.

Schnellorientierung zur histrionischen Neurosenstruktur

Wesensmerkmale: schillernd, facettenreich, unterhaltsam, verführerisch, unecht, hinter der Fassade trifft man keine greifbare Persönlichkeit an

Impliziter/unbewusster Auftrag: Ich möchte dich in meinem Bann ziehen; ich will die/der Erste und Wichtigste sein; wenn ich dich fasziniere, spüre ich, dass ich bin (Identität); zeige mir (an deinem Vorbild), wer ich sein kann

Gehemmt und abgewehrt: alles Eigene, eigene Bedürfnisse und Affekte, realitätsprüfende Erforschung der Welt, Auseinandersetzung mit sich selbst; echte Intimität und zwischenmenschliche Begegnung

Abwehrmechanismen: vorzeitige und übertriebene Ödipalisierung, Selbstinszenierung, Erotisierung und Emotionalisierung von Beziehungen und Situationen, Flucht aus der Realität in die Phantasie

Gegenübertragung: spannend, unterhaltsam, sinnlich stimulierend und phantasieanregend, jedoch auch verwirrend, verunsichernd, unecht und unehrlich; Sorge um Grenzüberscheitungen, u. U. Peinlichkeiten und Schamgefühle

Unbewusster Grundkonflikt: Ich spüre und weiß nicht, wer ich (sozial und psychosexuell) wirklich bin; ich gebe mich so, wie ich glaube, dass es dir gefällt; wenn ich mit dir Grenzen überschreite und mit dir Lust habe, kann ich mich fühlen; aber ich fürchte mich vor deiner und meiner Lust, denn es ist nicht recht, was wir tun (Gewissensangst und Scham)

Besonders vulnerabel für: Kränkungen hinsichtlich der eigenen Attraktivität, Zurücksetzung gegenüber Rivalen, narzisstisch-erotische Versuchungssituationen, vor allem mit unerlaubten Liebespartnern, Anforderungen an reifere Intimität und psychosexuelle Identität (zum Beispiel Ehe, Mutterschaft) sowie Verlust narzisstisch-erotischer Erlebensmöglichkeiten (zum Beispiel infolge fortschreitenden Lebensalters).