6. Emotional instabile Neurosensidposition (Borderline)

Psychischer Befund

Einerseits krankhafte Angst, verlassen zu werden, und erstaunliche Anstrengungen, nicht verlassen zu werden, andererseits Neigung zu Streit und impulsivem Verhalten ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, mit Wutausbrüchen und Gewalttätigkeit, wenn der Liebespartner dem Bedürfnis nach protektiver Behütung nicht ausreichend entspricht. Mangelnde Ausdauer und Selbstkontrolle, verminderte Angsttoleranz, imperativer Charakter der Triebbedürfnisse, Dominanz des Primärprozesses, unberechenbare Stimmungsschwankungen, innere Leere, kein klares Selbstbild, Identitätskonfusion, keine klaren Ziele. Hohe Ambivalenz in oft instabilen Beziehungen mit häufigen Krisen, dramatisch wechselnde Übertragungen: Der Idealisierung folgt leicht die totale Abwertung. Äußerst labiles Gleichgewicht, Stabilität in der Instabilität, kleine Störungen können zur Dekompensation führen, dann Neigung zu paranoiden Vorstellungen und dissoziativen Symptomen, doch erhaltene Realitätsprüfung, Pseudostabilität durch Ausgleichssymptome (zum Beispiel Sucht, Essstörung) oder durch pathologische, aber stabile Beziehungen zur Außenwelt, Selbststabilisierung hat Vorrang vor allen anderen Bedürfnissen, reduzierte Empathie, Labilität des Selbstkonzepts.

Biograph. Anamnese

Nach Benjamin seifenoperähnliches Chaos in der Herkunftsfamilie mit ständigen Dramen, in den ersten Lebensjahren bereits traumatische Erfahrungen von Trennung und Verlassenwerden, Gewalt, Misshandlung oder Missbrauch. Stark wechselndes und unberechenbares Verhalten der primären Beziehungspersonen: Inniger symbiotischer Zuwendung und Verwöhnung folgt schroffe Zurückweisung, Missachtung oder Abwertung. Streben nach Autonomie, Kompetenz und Glück wird in der Familie als Illoyalität bewertet und sanktioniert. Liebe, Fürsorge und Zuwendung wurden in der Familie gewährt, wenn sich der Patient krank und schwach zeigte.
Es werden also durchaus gewisse emotionale Kompetenzen (z. B. Geduld, Zärtlichkeit, Vertrauen, Glaube, Liebe) erworben, welche eine partiell gute und intensive Beziehungsfähigkeit bedingen. Aber in diese partiell vorhandenen emotionalen Qualitäten konnten die entgegengesetzten negativen Affekte nicht integriert werden. Der wichtige Entwicklungs- und Reifungsschritt, dass der geliebte andere in einer Person auch der Versagende und Gehasste sein kann (M. Kleins depressive Position), wird nicht vollzogen bzw. wieder rückgängig gemacht.

Psychodynamik

Aufgrund von genetischen Prädispositionen und Erschütterungen in der Loslösungs-/Individuationsphase bis etwa zum vierten Lebensjahr werden die Fusion guter und befriedigender Objekt-Repräsentanzen mit guten Selbst-Repräsentanzen sowie die Spaltung von guten und bösen Objekt- und Selbst-Aspekten nicht phasengerecht und vollständig aufgelöst. Schwer wiegende orale Frustrationen rufen schon früh bedrohliche Affekte von Wut, Hass und Neid hervor. Zum Selbstschutz und zur Abschirmung gegen aversive interpersonelle Erfahrungen findet weiter Spaltung statt: Gute, befriedigende und böse, versagende Anteile derselben Person werden als zwei verschiedenen Personen zugehörig erlebt. Durch Verleugnung der bösen Anteile wird das gute Bild nicht zerstört, das der Patient als spiegelndes, zur Fusion dienendes Selbst-Objekt braucht. Durch Projektion werden eigene negative, d. h. aggressive Selbstanteile als Feindseligkeit der Beziehungspersonen erlebt. Nach Benjamin findet eine Internalisierung der interpersonellen Interaktionsmuster und Beziehungserfahrungen in der Herkunftsfamilie statt. Verinnerlichtes Chaos bedingt die Instabilität, verinnerlichtes Verlassenwerden und Introjekte des Missbrauchers und Aggressors erklären die Tendenz zur Selbstgefährdung und Selbstschädigung. Eigene aggressive Anteile infolge Identifikation mit dem Aggressor werden projiziert und in anderen Personen bekämpft. Infolge der Spaltungen der Objekt- und Selbst-Repräsentanzen kommt es zur Fragmentierung des Selbst, damit zur Selbst-Objekt-Diffusion, zu Abhängigkeit oder autistischem Rückzug.
Persistierendes regressiv-unbewusstes Bedürfnis nach einem idealisierbaren dauerhaften Objekt, das vom inneren Chaos und der Wucht der widersprüchlichen Affekte des Patienten unanfechtbar ist und dennoch vollkommene Fürsorge und Bindungssicherheit gewährt.

Schnellorientierung zur emotional instabilen Neurosenstruktur

Wesensmerkmale: Stimmungen und Beziehungsverhalten extrem wechselhaft, es gibt keine innerseelische Pufferfunktion, labile und heftige Affekte, Selbstwertregulierung äußerst labil, keine Ausdauer und Selbstkontrolle, buntes Bild verschiedener Pathologien

Impliziter/unbewusster Auftrag: Halte mich aus; halte mich ganz fest; ohne dich kann ich nicht leben; ich bin zu allem bereit, damit du bei mir bleibst

Abgewehrt: Erleben von Gegensätzen und Ambivalenzen, widersprüchliche Aspekte einer Person sind unerträglich, andere sind entweder nur gut oder nur schlecht

Abwehrmechanismen: Spaltung, Verleugnung von emotional Unvereinbarem, totale Idealisierung und totale Abwertung, projektive Identifizierung , autodestruktive Bekämpfung negativer Introjekte, Dissoziation

Gegenübertragung: Alles ist intensiv, unberechenbar und u. U. chaotisch: Starke Anteilnahme, Angezogenheit, großes therapeutisches Engagement und Zuversicht wechseln mit Befremden oder persönlicher Verletztheit angesichts des scheinbar unbekümmerten Wechsels des Patienten von Liebe zu Feindseligkeit; die Idealisierung durch den Patienten verführt zu Vorstellungen von der eigenen Omnipotenz und Grandiosität, welche durch unerwartete Entwertung erschüttert werden; größte Besorgtheit um den Patienten; Schuldgefühle bei eigenen feindseligen Empfindungen gegenüber dem Patienten

Unbewusster Grundkonflikt: Ich erlebe keinen Konflikt; ich liebe dich bedingungslos als ideales Gegenüber oder bekämpfe dich hasserfüllt als meinen schlimmsten Feind; ich ertrage es nicht, dich zu verlieren; wenn du gehst, zerstöre ich dich und/oder mich

Besonders vulnerabel für: narzisstische Kränkungen sowie partnerschaftliche oder berufliche Anforderungen und Versagungssituationen, die Frustrationstoleranz, Impuls- und Affektkontrolle verlangen.