9. Passiv-aggressive / negativistische Neurosendisposition

Psychischer Befund

Negativistische Einstellungen und passiver Widerstand gegenüber Forderungen nach angemessener Leistung, zum Beispiel durch Verzögerungsmanöver: arbeitet scheinbar vorsätzlich langsam und schlecht, vergisst Pflichten. Abneigung gegen soziale oder berufliche Routineaufgaben. Mürrisch und streitsüchtig, wenn etwas von ihm verlangt wird, was er nicht tun möchte. Wechsel zwischen feindseligem Trotz und Reue. Klage, von anderen missverstanden und missachtet zu werden, glaubt, seine Tätigkeit besser auszuüben, als andere es glauben. Kritik und Verachtung gegenüber Autoritäten. Klage über eigenes Unglück und Neid auf andere, die offensichtlich mehr Glück haben.

Biographische Anamnese

Verlust eines als paradiesisch erlebten (oder auch nur phantasierten) Primärzustandes: Die anfängliche bevorzugte Fürsorge und Verwöhnung des Kindes wurde durch eine abrupte Veränderung unterbrochen, zum Beispiel die Geburt eines Geschwisterchens, dadurch neue und harte Leistungsanforderungen. Strenge Bestrafung von Wutäußerungen und von Autonomiestrebungen, die den Interessen der Eltern zuwiderliefen. Zentrale Themen sind Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.

Psychodynamik

Der abrupte Verlust anfänglicher Bevorzugung stellt eine narzisstische Kränkung dar, die weder durch Trauer noch durch Wutäußerung verarbeitet werden kann. Die Trauer wird abgewehrt durch eine geheime Aufrechterhaltung des Anspruches auf fortgesetzte Bevorzugung. Die Wut wird z. T. masochistisch gegen das eigene Selbst gerichtet, z. T. in Form versteckten passiven Trotzes gegen die Umwelt und vor allem gegen Autoritäten. Dadurch Selbstsabotage (zum Beispiel Verhinderung von beruflichem Aufstieg) und Wiederholung der alten Frustrationssituation und Bestätigung des negativistischen Weltbildes. Persistierendes regressiv-unbewuss-tes Bedürfnis nach Wiederherstellung des paradiesischen Primärzustandes vollkommener oraler und narzisstischer Befriedigung.

Schnellorientierung zur passiv-aggressiven Neurosenstruktur

Wesensmerkmale: Verbitterung und Enttäuschung über das Leben; der tief sitzende Groll und die Ressentiments äußern sich in Distanziertheit, passivem Widerstand und Zynismus

Impliziter/unbewusster Auftrag: Sieh mein Unglück, gib mir zurück, was mir genommen wurde; du sollst dafür büßen, dass ich nicht bekommen habe, was ich gebraucht hätte

Abgewehrt: zärtlich-liebende und prosoziale Tendenzen, Fixierung an oral-kaptative und trotzig-verweigernde Antriebe, dabei ist der offene Ausdruck von Wut und Ärger gehemmt; Vermeidung der notwendigen Trauerarbeit um das unwiederbringlich Verlorene

Abwehrmechanismen: Affektisolierung, Intellektualisierung, Verschiebung der Aggression auf soziale Situationen, Selbstsabotage (zum Beispiel Verhinderung von beruflichen Aufstieg), damit Wiederholung der alten Frustrationssituation und Bestä-tigung des negativistischen Weltbildes

Gegenübertragung: u. U. Mitgefühl für die tiefe Enttäuschtheit, die hartnäckig negativistische Haltung; das (Selbst-)Quälerische der Interaktion ist schwer auszuhalten

Unbewusster Grundkonflikt: Ich bin um mein Glück betrogen worden und kann mich dagegen nicht wehren; ich hasse die Menschen dafür, ich will sie spüren lassen, was mir angetan wurde

Besonders vulnerabel für: vermeintliche oder erneute reale Zurücksetzung und Benachteiligung, die möglicherweise durch das eigene Verhalten erst provoziert wurden